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«Praxis-Check» im Prüfungsraum

Seit Juni 2021 finden alle Prüfungen der höheren Berufsbildung von EIT.swiss am zentralen Prüfungsort, dem ZPO in Zürich Altstetten, statt. Für die Verantwortlichen bedeutet dies eine grosse administrative Vereinfachung, für EIT.swiss die Möglichkeit, die Professionalität der Prüfungen zu steigern und sie immer stärker zu digitalisieren. 

Viele in unserer Branche können sich noch an Prüfungen in Oberschaan, Sarnen oder sonst irgendwo in der Schweiz erinnern. Seit dem Umzug, bzw. der Konsolidierung der Prüfungen am ZPO werden pro Jahr insgesamt 50 Prüfungen mit insgesamt 1200 Teilnehmenden, natürlich dreisprachig, durchgeführt. Damit dies reibungslos abläuft, stehen neun Prüfungsräume im vierten Geschoss am Vulkanplatz 3 sowie ein Auditorium für die theoretischen Prüfungen im Erdgeschoss am Vulkanplatz 8 zur Verfügung. 

Ein achtköpfiges Team von EIT.swiss kümmert sich um die Abwicklung der Prüfungen. Ihm stehen knapp 350 Expertinnen und Experten aus allen vier Sprachregionen zur Verfügung, die an den Prüfungen jeweils ein ausgewiesenes und ausgewogenes Gremium bilden, das auch die entsprechende Landessprache spricht. Dies ist eine enorme logistische Aufgabe für das ZPO-Team, die sich dank dem zentralen Ort etwas vereinfacht hat. Mit der Digitalisierung der Prüfungen ist dafür eine neue Komponente hinzugekommen.

Mit dem technischen Fortschritt werden auch die Prüfungen am ZPO zunehmend digitaler. «Die Digitalisierung ist für uns ein logischer Schritt, wir haben bereits sehr viel in sie investiert, und es gibt nach wie vor einiges zu tun. Wir gelten als einer der digitalen Vorreiter im Prüfungswesen bei den höheren Berufsprüfungen», erklärt Bjørn Stuber, Verantwortlicher Prüfungsentwicklung und Prüfungsdurchführung. Und ergänzt: «Es ist eine Frage der Zeit, bis die Kandidatinnen und Kandidaten keine Unterlagen auf Papier mehr erhalten.»

Grosse Koordinationsarbeit

Orchestriert und organisiert wird der gesamte Prüfungsprozess vom engagierten Leitungsteam, bestehend aus Bjørn Stuber sowie Edona Dautaj-Sadikaj und André Sollberger. Während Edona für den gesamten Anmeldeprozess, die Einteilungen der Kandidatinnen und Kandidaten, sowie Expertinnen und Experten zuständig ist und bei allgemeinen Fragen zur höheren Berufsbildung weiterhilft, kümmert sich André um die Weiterentwicklung der digitalen Prozesse der Prüfungen und setzt die Belange der Kommission für Qualitätssicherung (QSK) um. 

Bjørn ist für die Entwicklung der Prüfungsaufgaben, die Sicherstellung der korrekten Durchführung der Prüfungen sowie für die Betreuung der Prüfungssekretäre verantwortlich. Das dreiköpfige Leitungsteam wird unterstützt von Dominique Henry, Gerardina Caputi, Fabio Müller, Benjamin Kurt und Mathieu Raschli.

Das Wort Prüfung empfindet Bjørn als unpassend, wie er uns anlässlich unseres Besuchs im ZPO erläutert: «Unsere Kandidatinnen und Kandidaten müssen bei der Vorbereitung auf die Prüfung lernen, den Blick auf die Tätigkeiten nach der Prüfung zu richten. Die Prüfung selbst ist eigentlich nur ein Check durch die Expertinnen und Experten, ob die Kandidatinnen und Kandidaten fähig sind, in der Praxis die richtigen und fachlich korrekten Entscheidungen zu treffen.» Damit die Prüfungsteilnehmenden dies am ZPO beweisen können, stehen ihnen dort umfassende elektrotechnische Anlagen zur Verfügung, an denen sie Messungen durchführen oder ein Fachgespräch mit ihrer Expertin oder ihrem Experten führen können. Diese evaluieren pro Prüfungsteil in den jeweils rund 80-minütigen mündlichen Prüfungen das Fachwissen der Teilnehmenden und beurteilen deren Wissen und Handlungskompetenz. Je nach Fachwissen und praktischem Vorgehen bestehen die Kandidatinnen und Kandidaten den «Praxis-Check» oder eben nicht.

Möglichst nahe an der Praxis

Die Mitglieder der Kommission für Qualitätssicherung (QSK) sowie die Mitglieder der Innovationsgruppen (gewählte Prüfungsexpertinnen und -experten, die von der QSK eingesetzt wurden, um Prüfungsaufgaben zu entwickeln) engagieren sich sehr stark dafür, dass die Prüfungssituationen möglichst real sind. «Wichtig ist uns, dass sich die Kandidatinnen und Kandidaten im Vorfeld der Prüfung in ihrem jeweiligen Umfeld intensiv mit den zukünftigen Aufgabenstellungen auseinandersetzen. Es geht den Experten darum, das Fachwissen der Teilnehmenden abzufragen. Wie gehen sie vor und wo können sie allenfalls etwas nachschlagen?», erklärt Bjørn. Die Expertinnen und Experten geben dadurch den Kandidierenden die Möglichkeit, Antworten zu begründen und Beispiele aus dem eigenen Berufsalltag in die Prüfungssituation einzubringen. Wobei es manchmal zu Missverständnissen kommt: «Neuerdings geht das Gerücht um, man solle möglichst viel von seinem Wissen kundtun, damit der Experte oder die Expertin keine Fragen mehr stellen kann, während ein Kandidat spricht. Das geht natürlich nicht. Was wir verlangen, ist ein Fachgespräch, und ein solches ist per Definition ein Dialog», stellt Bjørn klar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Prüfungsaufgaben aus den Bedürfnissen der Branche, von Prüfungsexpertinnen und -experten mit technischem und pädagogischem Hintergrund entwickelt und gegengelesen werden.

Open Book 

Die höheren Berufsprüfungen werden heute nach dem sogenannten Open-Book-Prinzip durchgeführt. Das heisst, die Kandidatinnen und Kandidaten sind frei, welche Hilfsmittel sie während der Prüfung nutzen wollen, abgesehen von Kontaktaufnahmen zu Dritten beispielsweise über Chats und Telefonate oder der Nutzung künstlicher Intelligenzen wie Chat GPT usw. «Dieses Open-Book-Konzept weckt bei vielen Kandidatinnen und Kandidaten im Vorfeld falsche Erwartungen. Es reicht nicht nur zu wissen, wo man etwas nachschlagen muss. Eine Expertin oder ein Experte muss auch wissen, warum wo nachgeschlagen wird und ob das Ergebnis korrekt ist. Wir wollen sicherstellen, dass die Kandidierenden nach der Prüfung auch wirkliche Fachpersonen sind, die eine Installation auf ihre Sicherheit beurteilen oder ein Projekt erfolgreich durchführen können», erklärt Bjørn das Ziel der praxisnahen Prüfungen. Und ergänzt: «Arbeiten mit Strom hat auch mit Sicherheit zu tun. Ich denke, schon deshalb ist es legitim zu prüfen, ob die Kandidierenden an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz richtig handeln, messen und installieren.» Eine falsche Kalkulation beispielsweise kann gravierende Folgen haben. Werden in einem Auftrag 100 Franken zu wenig kalkuliert, ist das zu bewältigen, wird jedoch die Selektivität der Energieversorgung eines Bürokomplexes komplett falsch kalkuliert, kann dies für ein Unternehmen existenzielle Folgen haben. Dies zeigt, wie wichtig die Nähe zur Praxis ist.

Gut zuhören

Bjørn Stuber kann einiges über seine Erfahrungen mit den Prüfungen erzählen. Natürlich sind die Kandidierenden am Prüfungstag nervös, das ist normal, und das wissen auch die Expertinnen und Experten. Was kann er ihnen mit auf den Weg in den Prüfungsraum geben? «Es ist es wichtig, auf die Fragen der Prüfungsexperten zu antworten. Viele Kandidaten und Kandidatinnen hören nicht genau zu und beantworten eine Frage, die der Experte nie gestellt hat. Die Expertinnen und Experten versuchen dann, die Kandidierenden zur richtigen Antwort zu führen, doch leider ist es dann oftmals so, dass sich eine Kandidatin oder ein Kandidat auf falschen Annahmen verhärtet und nicht versteht, dass sie auf der falschen Spur sind. So kommt es vor, dass Kandidierende den Prüfungsraum in dem Glauben verlassen, alles gewusst zu haben, und sich dann wundern, nicht bestanden zu haben.» Auf die abschliessende Frage, was Bjørn an seiner Arbeit motiviert, strahlt er und meint: «Ich finde es cool, wenn bei einer Prüfung viele positive Resultate dabei sind.» Und betont, wie wichtig ihm der Austausch mit den Expertinnen und Experten ist. «Was draussen in der Branche erlebt wird, ist unglaublich spannend. Dadurch kann ich zusammen mit dem ganzen ZPO-Team ständig neue Erkenntnisse in die zukünftigen Prüfungen einfliessen lassen. Die Arbeit wird uns hier nicht ausgehen.»

Allgemeine Tipps zur Vorbereitung auf die praxisorientierten Prüfungen von EIT.swiss:

  • Alle Prüfungsaufgaben und Szenarien basieren auf realen Situationen und Projektgegebenheiten, die in der Praxis schon in ähnlicher Form aufgetreten sind. 
  • Verknüpfe Theorie mit Praxis, indem du dein Schulwissen mit deinen realen Arbeitserfahrungen verbindest.
  • Achte darauf, was für deine Prüfung relevant ist, und ob du für diese Aufgabenstellungen Erfahrungen aus deinem Arbeitsumfeld einbringen kannst.
  • Suche Rat bei erfahrenen Fachkräften, um tiefgreifendes Verständnis für die Materie zu erlangen, die in der Prüfung und deiner zukünftigen Arbeit wichtig ist.
  • Lies an der Prüfung genau und mehrmals, was die Aufgabe ist (viele Kandidierende lesen die Aufgabe nicht genau und bringen mit viel Fleiss eine Lösung zu Papier, die nicht gefordert war).
  • Hör genau zu, was der Experte fragt, und frage bei Unklarheiten nach.
  • Bedenke, dass Expertinnen und Experten Wert auf deine praktischen Kenntnisse legen, die du während der Prüfung präsentieren kannst.
  • Alle EIT.swiss-Prüfungen zielen darauf ab, deine Fähigkeit zu beurteilen, in deinem Berufsfeld angemessene Entscheidungen und Massnahmen zu treffen, wobei Sicherheit und Korrektheit im Fokus stehen.
  • Bereite dich nicht nur auf die Prüfung vor, sondern auch auf die Praxis. Wenn du dich in der realen Arbeit bewährst, wird die Prüfung eine natürliche Reflexion deiner Fähigkeiten sein.
  • Gehe über die geforderte Zeit des Praktikumsberichts hinaus, alles Erlebte auf der Elektrokontrolle hilft dir, in den sicherheitstechnischen Fächern besser Rede und Antwort zu stehen.
  • Wenn du für die Praxis gewappnet bist, wird dir die Prüfung Freude bereiten und du kannst zeigen, was du wirklich kannst.

Autor: René Senn, erschienen im EIT.swiss Magazin 02/2024. Foto: Michael Donadel, auf dem Bild: Bjørn Stuber